
28 Jun 5 Gründe, sich mit KI zu beschäftigen
Künstliche Intelligenz (KI) ist derzeit in aller Munde. Wer heute nicht vorgibt, dass sein Produkt neben IoT, Big Data und Blockchain auch noch KI im Bauch hat, hat ja eigentlich schon verloren.
Selbst die Politik hat erkannt, dass hier Handlungsbedarf besteht und will Europa zur Hochburg der KI machen.
Es gibt nur einen Haken an der Sache: Viele, die über KI sprechen, haben nur sehr wenig Ahnung von der Sache. Und es ist ihnen nicht einmal vorzuwerfen. KI ist ein komplexes, technisches Thema und es ist für Laien ungemein schwer, ein realistisches Bild von den Möglichkeiten und Grenzen zu bekommen.
Ich versuche daher mal, in einer Serie von Blogbeiträgen das Thema KI so zu zerlegen, dass es für ein breiteres Publikum zugänglich wird. Das beinhaltet eine ganze Reihe von Fragen, die im Raum stehen. Was ist eigentlich KI? Was steckt hinter all den Begriffen wie Machine Learning, Deep Learning, etc.? Warum ist es so schwer, sich dem Thema zu nähern? Was sind realistische Anwendungsszenarien? Werden wir bald von einer künstlichen Super-Intelligenz beherrscht? Welche Chancen und Gefahren gibt es bei KI?
Aber bevor ich mich an all den Fragen abarbeite, beginne ich mit der zentralen Frage: Warum könnte es für den einen oder die andere überhaupt Sinn machen, sich mit KI näher zu beschäftigen?
Warum könnte es Sinn machen, mich mit KI zu beschäftigen?
KI ist ein merkwürdiges Phänomen. Die Wurzeln der künstlichen Intelligenz liegen bereits mehr als 70 Jahre zurück. Der Begriff „Artificial Intelligence“ (AI) wurde in den 1950er Jahren geprägt. Es gab verschiedene Wellen großer Popularität, jede von überzogenen Heilsversprechungen und nachfolgender Ernüchterung begleitet.
Bis vor 1 – 1 ½ Jahren war das Thema bei uns praktisch kaum in der öffentlichen Wahrnehmung, während es im Silicon Valley schon seit Jahren das heisse Thema ist. Davon ist sicher ein Teil Hype, der von überzogenen Heilsversprechungen begleitet wird, von denen einige zu absehbaren Enttäuschungen führen werden. Ebenfalls gibt es abschreckende Horrorszenarien übermenschlicher Killermaschinen, die uns dominieren werden (nein, werden sie erstmal nicht, um das mal vorweg zu nehmen).
Sollte man also nicht einfach warten, bis der Hype vorbei ist? Was ist diesmal anders? Hier sind 5 Gründe, warum man sich mit KI beschäftigen sollte.
1. Grund: Chancen der Anwendung von KI ausloten
Zwar haben sich die konzeptionellen Grundlagen der heutigen Systeme in den letzten 30 – 40 Jahren kaum geändert und doch ist die Situation heute anders: die gestiegene Rechenleistung lässt es inzwischen zu, große Modelle mit praktischer Anwendbarkeit und Relevanz zu trainieren. Zudem liegen mehr und mehr Daten in elektronischer Form vor. Dies hat dazu geführt, dass wir zunehmend von KI-basierten Systemen umgeben sind: Sprachassistenten wie Siri und Alexa, Produktempfehlungen auf Amazon oder Netflix, oder die automatische Übersetzung von Texten wie Google Translate. Wirklich autonomes Fahren ist zwar noch ein Stück entfernt, aber viele Assistenzsysteme nutzen KI-basierte Algorithmen.
Die aktuellen Anwendungsgebiete sind erst der Anfang. Bis die Möglichkeiten der aktuellen Technologie ausgeschöpft sind, wird es noch lange dauern. Anwendungsfelder, in denen neue Lösung entwickelt werden reichen von der Reduzierung von Pflanzenschutzmitteln durch automatische Überwachung des Pflanzenwachstums, die bessere Diagnose von Krankheiten und optimierte Behandlungsszenarien oder die Optimierung der Stromproduktion und -verteilung im Zuge der Energiewende, um nur einige zu nennen. Und die Grundlagenforschung im Bereich Machine Learning schreitet weiter voran.
Wir könnten jetzt sagen, o.k. KI ist im Mainstream angekommen. Es gibt aber noch so viele andere Themen, um die wir uns genauso gut kümmern könnten.
2. Grund: Das Feld nicht den anderen überlassen
Auf diesen Standpunkt kann man sich stellen, und offensichtlich tut dies Europa bisher. Denn: Im Moment wird das Thema KI i.w. außerhalb der EU voran getrieben. In einem sehr lesenswerten (kurzen!) Bericht hat die EU-Kommission die Situation zusammengefasst. Und sie sieht nicht wirklich gut aus für die EU:
Es sieht nicht gut aus für Europa
- Die großen Internetkonzerne Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft, IBM und Baidu in China stecken gewaltige Summen in die KI-Forschung, um Mehrwert aus ihren Daten zu generieren. Dazu kommen unzählige Startups und Tech-Firmen wie Tesla und Uber, die in speziellen Felder forschen. Abzulesen ist dies an den Zahlen der EU. Hiernach sind die USA und China sowohl bei den privaten Investitionen, als auch beim Forschungsoutput der EU weit voraus.
- Die USA, China, Südkorea, Japan, die Vereinigten Arabischen Emirate, Großbritannien, Frankreich und Finnland haben alle eine KI-Strategie. Die EU stellt dazu fest: „Deutschland hat derzeit keine nationale Strategie bzgl. KI.“ Wir sind derweil noch damit beschäftigt, auf Kupferbasis das weltweit beste Internet aufzubauen …
- China hat entschieden, KI bereits in der Schule zu unterrichten, da man hierin den Schlüssel für zukünftiges Wachstum sieht. Im Gegensatz zu anderen Hochtechnologien, hat China im Bereich KI keinen Rückstand. Bei uns wird stattdessen darüber diskutiert, ob Schüler ihre Handys in der Schule benutzen dürfen.
- Der Wettbewerb um die Talente im Bereich KI ist extrem intensiv. In den USA werden bereits für wenig erfahrene Experten $300.000 und mehr gezahlt. Bei diesen Aussichten wird es schwer, Experten in Europa zu halten.
Ganz offensichtlich nehmen viele Staaten ausserhalb Deutschlands das Thema KI deutlich ernster als wir.
3. Grund: Nicht nur die negativen Auswirkungen von KI mitnehmen
Wie bei jedem technologischen Wandel, gibt es sowohl positive wie negative Auswirkungen. Positive Auswirkungen sind ein höherer Wohlstand und neue Arbeitsplätze. Diese positiven Auswirkungen bzgl. KI werden wir nur bekommen, wenn wir entsprechend investieren. Die negativen (über die bei uns gerne und lange diskutiert wird) bekommen wir hingegen gratis.
Natürlich muss man nicht gleich alles mitmachen, nur weil es die anderen tun. Unsere Wirtschaft boomt, und wir exportieren wie die Weltmeister. Und unser Maschinenbau ist Weltklasse. Kann also nicht alles falsch sein, was wir machen.
The innovator’s dilemma
Nein, ist es sicher nicht. Wir haben ja aktuell ein gutes Beispiel, was passiert, wenn man bestimmte Trends nicht ernst nimmt und macht, was man immer gemacht hat. Die deutsche Automobilindustrie hat jahrelang Tesla & Co. belächelt. Die Themen E-Mobilität und autonomes Fahren wurden nicht ernst genommen. Stattdessen hat man sich auf das konzentriert, was man kann: die Dieseltechnologie. (O.k., ganz offensichtlich konnte man das auch nicht so richtig …). Nun versucht man, sich im Ankündigen von neuen Elektrofahrzeugen und Mobilitätskonzepten zu überbieten. Diese Situation ist übrigens ein wunderbares Beispiel von „The innovator‘s dilemma“ von Clayton Christensen: Unternehmen sind in ihrem eigenen Markt gefangen, während junge Unternehmen neue Märkte erschliessen und die alten Unternehmen entbehrlich machen. Vielleicht wird Tesla tatsächlich nicht erfolgreich. Dann ist es eben irgendein chinesisches Unternehmen, was wir noch gar nicht auf dem Radarschirm haben.
Vielleicht macht es also Sinn, das Thema KI ernster zu nehmen
Derzeit wird noch diskutiert, ob es durch KI einen netto Gewinn oder Verlust von Arbeitsplätzen geben wird. Es ist müßig, diese Frage zu diskutieren, denn ob wir nun mitmachen, oder nicht, die negativen Auswirkungen werden uns unabhängig davon treffen. Denn andere machen mit (s.o.) und schaffen neue (hochbezahlte!) Arbeitsplätze und sorgen dafür, dass anderswo Arbeitsplätze auf zweierlei Weise verloren gehen:
- durch Automatisierung bestehender Tätigkeiten
- durch die Insolvenz von Unternehmen, deren Produkte durch neue Technologien obsolet geworden sind
Es gibt aber noch weitere negative Auswirkungen, wenn wir nicht verstehen, was die Möglichkeiten und Grenzen von KI sind, und wie Machine Learning funktioniert. Z.B. besteht die Gefahr, dass wir KI-Systemen Entscheidungen überlassen, für die sie nicht konzipiert wurden. Oder wir trainieren Systeme mit Daten, die unsere eigenen Vorurteile (Bias) reflektieren. Diesen Effekten kann nur mit Wissen begegnet werden.
4. Grund: Tragweite politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen einschätzen können
Schauen wir auf die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die wir benötigen, um offen mit dem Thema KI umzugehen. Man muss nicht bei Facebook sein, oder gar gut finden, was sie so treiben. Aber bei aller berechtigter Kritik wird in der Diskussion immer eine Sache übersehen: offensichtlich bieten die Internetkonzerne ihren Nutzern großen Mehrwert. Sonst würden sie die Angebote überhaupt nicht nutzen. Dass dies wahr ist, zeigt keiner mehr als die Tech-Industrie selbst. Wer nutzt heute noch ein Handy von Nokia, Ericsson, Siemens, Motorola, RIM, Sony oder Microsoft ? Wer ist noch bei StudiVZ oder Google Plus?
Wer in diesem Umfeld besteht, hat eines gezeigt: Er kennt und bedient die Bedürfnisse der Nutzer besser als die Konkurrenz. Und dies funktioniert nur, wenn ich meine Kunden kenne. Oder anders: wenn ich möglichst viele Daten über meine Kunden habe. Denn Facebook & Co. nutzen unsere Daten nicht nur, um sie weiter zu verkaufen und uns mit Werbung zuzumüllen. Nein, die Daten werden auch genutzt, um uns relevante Inhalte (d.h. Mehrwert) zu zeigen. Und was als relevant angesehen wird, entscheiden KI-Systeme aufgrund der vorhandenen Daten. Sind diese Daten nicht ausreichend, wird der Nutzer die angezeigten Inhalte nicht als relevant empfinden und ggf. den Service nicht mehr nutzen.
Rahmenbedingungen schlagen politisches Wunschdenken
Auf politischer Ebene wird ja immer wieder beklagt, dass es keine europäischen Internetkonzerne als Gegengewicht zu den amerikanischen gibt. Man hätte gerne eine europäische Suchmaschine und ein soziales Netzwerk. Aber offensichtlich sind die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen nicht so geschaffen, dass entsprechende Unternehmen hier entstehen.
Und dies wird im Bereich KI nicht viel anders sein. Ja, es gibt Szenarien, in denen man keine personenbezogenen Daten benötigt, z.B. in der Landwirtschaft. Aber die allermeisten Szenarien, die Mehrwert versprechen, werden personenbezogene Daten benötigen. Und da ist der Fokus auf die DSGVO nicht hilfreich. Wer setzt sich als Startup denn dem Risiko aus, unter die Räder der Datenschutzbehörden zu gelangen? Wer lässt sich schon gerne als Datenkrake verunglimpfen?
Hier muss sich Europa entscheiden. Als Vorreiter in Datenschutz und KI zu gelten, wird nicht funktionieren. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Nutzer mehr Kontrolle über ihre Daten erhalten. Gleichzeitig ist es in ihrem Interesse bessere Produkte und Services zu erhalten. Und Unternehmen gehen dorthin, wo sie die besten Rahmenbedingungen finden. Und die EU hat festgestellt, dass dies für europäische Gründer zunehmend ausserhalb Europas ist.
5. Grund: Ausgewogene Auseinandersetzung statt Polarisierung
Mein letzter Grund, sich mit KI näher zu beschäftigen, ist eng verbunden mit den politischen und gesellschaftlichen Aspekten: Wir können kein Interesse an einer Polarisierung der Diskussion haben. Und KI bietet einiges an Potential für eine Polarisierung, wenn wir es nicht schaffen, ein realistisches Bild von der Technologie zu vermitteln.
Wenn sich Befürworter und Gegner von KI unversöhnlich gegenüber stehen, ist keinem geholfen. Man kann eine kritische Haltung gegenüber KI haben. Es ist sogar wünschenswert, Methoden und Anwendungsfelder kritisch zu hinterfragen. Und wir brauchen den gesellschaftlichen Dialog über die Grenzen, die wir uns beim Einsatz von KI setzen wollen. Aber all dies kann nur auf der Basis eines sachlichen Verständnis der Thematik funktionieren.
Vielleicht waren ja einige Argumente und Informationen hilfreich, warum man sich mit dem Thema KI befassen sollte. In meinem nächsten Blogbeitrag beschäftige ich mich dann mit der Frage, warum es für die meisten Menschen so schwierig ist, sich ein realistisches Bild von den Möglichkeiten und Grenzen von KI zu verschaffen.